Di, 02. März 2021
Projekt „Neues Leben in Bremen“
Interkulturelle Gespräche per Videochat
Seit fünf Jahren gibt es beim „Zentrum für Interkulturelles Management & Diversity“ (ZIM) der Hochschule Bremen den Schwerpunkt „Flucht und Migration“. Das Projekt bietet nicht nur geflüchteten Studierenden Unterstützung, sondern ist auch in der Stadt aktiv. Ein besonders wichtiges Format sind die interkulturellen Gesprächskreise, die in Corona-Zeiten eine andere Form gefunden haben.
Seit drei Jahren gibt es das Angebot in Kooperation mit der Volkshochschule
Bremen (VHS), gefördert von der Senatorin für Bildung und Kinder. „Mit den
interkulturellen Gesprächskreisen – die bei uns unter dem Titel ‚Neues
Leben in Bremen‘ laufen – wollen wir Neu-Bremer*innen die Möglichkeit
geben, Fragen zu stellen, Beobachtungen zu teilen und ihre Lebenswelten zu
reflektieren, um so selbst ihren Weg hier zu finden“, beschreibt Koordinatorin
Vera Kuenzer von der Hochschule Bremen ihr Projekt.
Das wichtigste Bindeglied sind hier die Brückenbauer*innen aus den
Herkunftsregionen, meist selbst Geflüchtete, die hier schon etablierter sind
und etwas für ihre Landsleute aus Syrien, Afghanistan, Guinea und anderen
Ländern, tun wollen. Sie begleiten die Gruppen zusammen mit interkulturellen
Trainer*innen aus Bremen.
Im vergangenen Jahr waren vier Gruppen geplant, die sich jeweils über ein Jahr
treffen sollten. Corona machte einen Strich durch die Rechnung. Statt der
Gruppentreffen, die seit Herbst nicht mehr möglich sind, bietet das Projekt nun
mit individuellen Videochats die Möglichkeit, dass Geflüchtete ihre Geschichte
erzählen.
„Ich erzähle meine Geschichte“
Die Gruppe der jungen Geflüchteten aus Guinea trifft sich seit anderthalb
Jahren persönlich mit Mouhamed Diallo, dem Brückenbauer und Übersetzer, und
einer interkulturellen Trainerin. Viele der jungen Erwachsenen leben in der
Erstaufnahmestelle in der Lindenstraße in Vegesack. Sie alle haben einen
unsicheren Aufenthaltsstatus – einige stecken noch im Clearingverfahren,
andere haben eine Duldung für sechs Monate.
Seit dem zweiten Lockdown sind die jungen Geflüchteten in ihrem Leben noch
isolierter und nehmen gerne das Angebot wahr, im Einzelgespräch per Videochat
ihre ganz eigene Geschichte zu erzählen. In der Gruppe hätten sie das eher
nicht getan. Diese virtuellen Treffen finden zu dritt und in der Muttersprache
Fula statt. „Diese Gespräche sind ein großer Vertrauensbeweis und oft sehr
berührend“, berichtet die Koordinatorin, „und wir wollen einfach verstehen,
warum alles so gekommen ist“.
Immer wieder bestätigen die jungen Geflüchteten, wie froh sie darüber sind,
dass sich jemand für ihre Geschichte interessiert und sich Zeit nimmt, ihnen
zuzuhören. Sie alle wollen vor allem von ihren Erlebnissen auf dem Weg nach
Bremen erzählen „Die Fluchtgeschichten sind sehr bewegend, teils unfassbar
traurig oder grausam“, sagt Kuenzer. Die Projektmitarbeiter*innen sind
sich dabei ihrer Verantwortung durchaus bewusst und vermitteln im Bedarfsfall an
professionelle Therapeut*innen weiter.
Dass bei individuellen Gesprächen die drängendsten Probleme deutlich werden,
ist ein erster, ganz entscheidender Schritt, um dann gemeinsam nach Lösungen
suchen zu können. Schnell wird anhand der Geschichten deutlich, dass für die
meisten das, was sie auf der Flucht erlitten haben, schlimmer war als das, wovor
sie im Herkunftsland geflüchtet sind:
Brutale Schlepper, oft jahrelange Sklavenarbeit, sexueller Missbrauch und
schließlich das große Trauma der oft tagelangen Fahrt auf einem überfüllten
Schlauchboot „Wenn wir das gewusst hätten, wären wir lieber arm und ohne
Perspektive in Guinea geblieben“, fasst Kuenzer das Fazit der meisten
Erzähler zusammen.
Die Situation ist vertrackt: Zwar gibt es in Guinea keinen Krieg, aber es sind
oft familiäre Dramen, Unfälle oder Krankheiten, die vor allem Frauen und
Kinder völlig ungeschützt zurück lassen und die im ersten Schritt dazu
führen, dass Jugendliche dann nach einem neuen Weg suchen. Fast keiner, so sagt
Vera Kuenzer, hatte anfangs den Plan, bis nach Europa zu gehen.
Die Bremer Gruppe möchte deswegen, dass die Geschichten ihrer Flucht auch in
Guinea ankommen. Denn dort glaubt niemand, wie es ihnen seit ihrem Aufbruch
ergangen ist, das Bild vom reichen Europa ist übermächtig. Doch klar ist ihnen
auch, dass Warnungen alleine nicht reichen, es müssen im Herkunftsland auch
Perspektiven geschaffen werden, um junge Menschen vor Schleppern zu
schützen.
In Bremen beginnt nun das neue Leben mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus, oft
noch schlechten Träumen und dem großen Wunsch, hier endlich die Schule
besuchen zu können und eine Ausbildung zu machen. Solange ist das Leben im
Lockdown nicht einfach und sobald es wieder möglich ist, ist Vera Kuenzer neben
dem Austausch vor allem auch das Treffen an verschiedenen Orten der Stadt
wichtig: „Ob das „Freizi“ in Vegesack, die Stadtbibliothek, ein Museum
oder eine Rechtsberatungsstelle – wir zeigen den Jugendlichen Plätze, wo sie
gut sein können, wo sie möglicherweise Freunde, Zugang zu Bildung oder
Unterstützung im Alltag oder für eine Ausbildung finden können.“ Bis das
wieder möglich ist, ist der Videochat in Corona-Zeiten ein kleiner
Rettungsanker.
Kontakt:
Vera Kuenzer
Hochschule Bremen
Zentrum für Interkulturelles Management und Diversity(ZIM)
Werderstraße 73
28199 Bremen
Tel.: 0421/ 5905-44 12
vera.kuenzer@hs-bremen.de