Diese Stellungnahme baut auf unserer bisherigen Haltung auf und thematisiert die potenziellen Gefahren und Chancen für die Selbstbestimmung und Partizipation von Geflüchteten im Land Bremen. Unser Ziel ist es, auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse, rechtlicher Entwicklungen und praktischer Überlegungen eine fundierte Einschätzung abzugeben, die die Perspektiven und Erfahrungen der betroffenen Geflüchteten berücksichtigt.
Hintergrund der Bezahlkarte
Das geplante Gesetz sieht vor, dass Geflüchtete, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen, diese künftig teilweise über eine Bezahlkarte erhalten. Diese Regelung wurde nach einer Einigung von Bund und Ländern von den Regierungsfraktionen aus SPD, Grünen und FDP unterstützt.
Sozialsenatorin Dr. Claudia Schilling hat am 2. Juli 2024 erste Details zur Bezahlkarte vorgestellt. Demnach soll die Karte das bargeldlose Bezahlen sowohl in Geschäften als auch im Internet ermöglichen. Bremen wird zunächst 3.000 Karten ausgeben, die an Bewohnende der Erstaufnahmeeinrichtungen sowie an Personen in Übergangswohneinrichtungen ohne eigenes Konto verteilt werden. Die Karte wird monatlich mit dem persönlichen Bedarfsgeld aufgeladen, und Inhabende können bis zu 120 Euro in bar abheben. Besondere Einschränkungen hinsichtlich der Verwendung der Karte gibt es nicht, allerdings kann die Karte nur innerhalb Deutschlands verwendet werden, und Überweisungen sind ausgeschlossen.1
Wissenschaftliche Einschätzungen
Wissenschaftliche Expertinnen und Experten des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) haben die Bezahlkarte intensiv analysiert und kritisiert2,3.
Wirkung auf Migration: Dr. Noa K. Ha betont, dass die Einführung der Bezahlkarte fälschlicherweise einen Zusammenhang zwischen Migration und hohen Sozialleistungen konstruiert, der wissenschaftlich nicht belegbar ist. Migration wird durch vielfältige Faktoren beeinflusst, die durch die Bezahlkarte nicht adressiert werden.2,4
Negative Auswirkungen auf Integration: Prof. Dr. Herbert Brücker warnt vor den möglichen Einschränkungen in Mobilität und Teilhabe, die die Bezahlkarte mit sich bringen könnte. Diese könnten die Integration in den Arbeitsmarkt und das soziale Leben erheblich behindern, was insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels problematisch ist.2
Rechtliche Entwicklungen: Urteil des Hamburger Sozialgerichts
Ein aktuelles Urteil des Hamburger Sozialgerichts hat die Diskussion um die Bezahlkarte weiter angefacht. Das Gericht entschied, dass eine pauschale Beschränkung des Bargeldbetrags, den Asylbewerber mit der Bezahlkarte abheben können, auf 50 Euro nicht rechtmäßig ist. Diese Entscheidung wurde von der Stadt Hannover ausdrücklich begrüßt. Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) betonte, dass starre Obergrenzen die individuellen Rechte der Menschen missachten würden. Hannover hatte bereits im Dezember 2023 als eine der ersten Kommunen eine Bezahlkarte, die sogenannte „Social Card“, eingeführt, die keine Beschränkungen beim Abheben von Bargeld vorsieht. Die Nutzer können die vollen Sozialleistungen von bis zu 460 Euro pro Person in bar abheben.5
Dieses Urteil zeigt, dass die geplanten Einschränkungen der Bezahlkarte in Bremen und anderen Bundesländern rechtlich problematisch sein könnten. Zudem verdeutlicht es die Notwendigkeit, individuelle Umstände der Betroffenen bei der Gestaltung solcher Maßnahmen stärker zu berücksichtigen.
Selbstbestimmung und Partizipation: Gefahr oder Chance?
Im Zentrum unserer bisherigen Diskussionen stand die Frage, ob die Bezahlkarte eine Gefahr oder eine Chance für die Selbstbestimmung und Partizipation von Geflüchteten darstellt.
Gefahren für die Selbstbestimmung: Die Einführung der Bezahlkarte könnte die finanzielle Autonomie der Geflüchteten einschränken, indem sie den Zugang zu bestimmten Gütern und Dienstleistungen limitiert. Dies könnte nicht nur die Lebensqualität der Betroffenen beeinträchtigen, sondern auch deren Fähigkeit, eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen. Das Urteil des Hamburger Sozialgerichts untermauert diese Bedenken, indem es auf die Gefahr hinweist, dass pauschale Begrenzungen die Rechte und Bedürfnisse der Geflüchteten missachten könnten.
Chancen für Partizipation: Befürwortende Argumente beschreiben, dass die Bezahlkarte eine bessere Kontrolle über staatliche Mittel ermöglichen könnte und so eine effizientere Verteilung der Ressourcen sicherstellt. Allerdings ist fraglich, ob dies tatsächlich zu einer Verbesserung der Partizipationsmöglichkeiten führt, oder ob es vielmehr zusätzliche Hürden schafft. Die von Senatorin Dr. Schilling vorgestellten Details, wie die Möglichkeit, die Karte für Online-Einkäufe zu nutzen, könnten theoretisch die Teilhabe erleichtern. Jedoch bleibt abzuwarten, ob diese Maßnahmen in der Praxis ausreichen, um echte Partizipationschancen zu fördern.
Bewertung der Bezahlkarte im Bremer Landeskontext
Für das Land Bremen, das sich stets um eine inklusive und partizipative Integrationspolitik bemüht hat, stellt die Einführung der Bezahlkarte eine besondere Herausforderung dar. Die möglichen negativen Auswirkungen auf die Selbstbestimmung und die eingeschränkte Teilhabe könnten die Bemühungen Bremens, eine offene und integrative Gesellschaft zu fördern, untergraben. Die von der Sozialsenatorin angekündigten Maßnahmen, wie die neutrale Gestaltung der Karte und die Möglichkeit, Gebühren für Bargeldabhebungen durch das Land zu übernehmen, zielen auf eine diskriminierungsfreie Nutzung ab. Dennoch bleibt die Frage offen, inwieweit diese Maßnahmen tatsächlich die Autonomie und Partizipation der Geflüchteten fördern.
Empfehlung
Der Bremer Rat für Integration empfiehlt, die Einführung der Bezahlkarte kritisch zu hinterfragen und alternative Ansätze zu prüfen, die die Selbstbestimmung und Partizipation der Geflüchteten stärken. Es sollte sichergestellt werden, dass die Geflüchteten in den Entscheidungsprozess eingebunden werden und dass ihre Bedürfnisse und Rechte angemessen berücksichtigt werden. Die vorgestellten Maßnahmen des Senats sollten regelmäßig überprüft und angepasst werden, um sicherzustellen, dass sie den Bedürfnissen der Geflüchteten gerecht werden. Das Urteil des Hamburger Sozialgerichts sollte hierbei als wichtiger rechtlicher Maßstab dienen.
Fazit
Die wissenschaftlichen Einschätzungen, rechtlichen Entwicklungen und praktischen Überlegungen zeigen, dass die Bezahlkarte eher Gefahren als Chancen für die Selbstbestimmung und Partizipation der Geflüchteten birgt. Der Bremer Rat für Integration fordert daher eine Neubewertung des Gesetzesvorhabens und eine verstärkte Berücksichtigung der Perspektiven der Betroffenen.
Dewi Cynthia Stümer
Bremer Rat für Integration
Quellen:
Ansprechpersonen für die Medien: Dewi Cynthia Stümer, Bremer Rat für Integration, E-Mail: bremer.rat@soziales.bremen.de
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